Ihr Lieben, der folgende Beitrag stammt von einer geschätzten Leserin ohne eigenen Blog. Es hätte den Kommentarrahmen wohl gesprengt. Deshalb die Idee eines Gastbeitrags von Sunni:
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Fotorechte bei Priska
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Wer dick ist, der ist auch …dumm, faul, undiszipliniert, reflektiert sich nicht, kümmert sich nicht um sein Äußeres…und ist einfach inakzeptabel
Gedanken zu einem Post und den Reaktionen darauf
Nachdenklich macht uns in den letzten Monaten ja vieles, auch manche Blogeinträge, Twitterstürme, Instagramselbstdarstellungen.
Mich persönlich hat Tinas Post über ihr Abnehmprogramm zum intensiven Nachdenken gebracht, denn es verdeutlich, insbesondere mit den Reaktionen darauf, wie wir uns und andere sehen, wie wir sie sehen wollen und sollen.
Die Grundtendenz aller Kommentare lautet im Prinzip, auch wenn nicht direkt so ausgedrückt: Wer schlank ist, ist: gesund, schön, fleißig, diszipliniert und überhaupt eigentlich toll.
Keiner sagt natürlich wörtlich: Wer dick ist, ist das Gegenteil. Das würde kaum einer öffentlich tun. Schaut man sich aber die Formulierungen einmal genauer an, so drücken sie eigentlich genau das aus.
Nun kann ich persönlich mich aus einer mehrfach betroffenen Sicht äußern und habe mir überlegt (und Tina gefragt, ob sie einen Gastbeitrag dazu mögen würde), dass man damit im Jahr 2020 eigentlich genau das Bild unterstützt, von dem wir uns doch alle (oder fast alle ( ) meinen emanzipiert zu haben. Äußerlichkeiten…
Im Allgemeinen schiebt man eine Sicht auf derlei Dinge ja gern männlichen Aussagen zu. Indirekt denkt aber FRAU wohl ganz genauso. Ist das schlimm? Nö, werden manche jetzt raunen oder es auch laut aussprechen. Gesundheit, Anerkennung, Durchsetzung, Erfolg…ist doch alles nur möglich, wenn man entsprechend aussieht, oder?
Vielleicht kann ich mit meinem nur kleinen Beispiel aushelfen, einmal darüber nachzudenken, welche Vorverurteilungsmechanismen in uns wirken.
By the way: Ich persönlich finde Tinas Weg gut, bewundere sie und hoffe, sie wird das lange durchhalten können. Aber der MENSCH Tina ist für mich völlig derselbe, ob er nun 20 kg leichter ist oder schwerer. Leider, muss ich das sagen, oder zum Glück. Denn ich finde eigentlich nichts schlimmer, verachtenswerter, als Menschen nach ihrem Äußeren zu bewerten.
Ich selbst habe eine sehr wankelmütige Gewichtskarriere hinter mir. Darauf bin ich nicht stolz, aber sie zeigt mir genau, was welche Situation bewirkt.
Als Kind war ich völlig normalgewichtig, eher etwas dünn, aber nie mollig – wie es so schön heißt und eigentlich Böses meint. Als sehr junge Frau und mitten im Studium wurde ich schwanger und nahm erheblich zu. Das Gewicht verschwand auch nicht etwa mit der Entbindung, wie ich immer leise gehofft hatte, es war da. Und es löste sich auch nicht im Ansatz auf, als ich wenige Monate später von einem zukünftigen Theologen geschieden (er wollte noch etwas vom LEBEN haben, Zitat) mit einem kranken, krippenunfähigen Kleinstkind vor meinem Staatsexamen stand. Dieses absolvierte ich dickhäutig – ja, genau so! - und fing an, unter erschwerten Bedingungen jeder Art zu arbeiten. Meine Schüler fanden mich nicht dick, ich mich schon, weil – siehe oben – ich nicht dem Schönheitsideal entsprach, also keine engen Hosen tragen konnte, kurze Röcke nur sehr bedingt…
Damals dachte ich nicht viel über mein Äußeres nach, ich hatte ganz andere Probleme. Die wurden nicht kleiner, als ich ein Jahr später heiratete, zu schnell, um Katastrophen abschätzen zu können, aber unter dem Aspekt, eine Wohnung zu bekommen, was in der damaligen DDR nur möglich war, wenn man verheiratet war.
Ich blieb also mollig, es störte keinen und ich bekam nach weiteren 7 Jahren ein 2. Kind. Diese Schwangerschaft brachte mich gewichtsmäßig an eine Grenze, ich überschritt ein dreistelliges Ergebnis. Es folgte ein Babyjahr zuhause mit zwei Kindern, einem Mann, dem kurz nach der Hochzeit eingefallen war, dass er ja noch 2 uneheliche Kinder hatte, für die er Unterhalt für 3 Jahre nachzuzahlen hatte. Ich entschied, neben meiner Babyzeit 3 Nebenjobs abends anzunehmen und strickte anschließend für andere Frauen schicke Pullover bis morgens um 2 Uhr, das brachte zusammen soviel ein, dass wir uns einen bescheidenen Urlaub und einen alten Trabi leisten konnten.
Irgendwann in dieser Zeit traf ich eine alte Bekannte, die mich fragte, wann es denn soweit wäre…Ich verstand die Frage erst nicht, ein paar Minuten später schossen mir die Tränen nur so aus den Augen, während ich den Kinderwagen steil bergan wuchtete. DER würde ich es zeigen, so nicht, nicht mit mir. (Achtung, Ehrgeiz!) Ich beschloss also: Ich werde dünn, sofort. Von da an aß ich 1,5 Jahre trockenes Brot, ab und an einen Apfel, wenn es gab, Tomaten und trank Kaffee. Dass ich fast genau zu dieser Zeit meine Berufstätigkeit wieder aufnahm, war mit Sternchen vor Augen unangenehm, aber unumgänglich. Ich nahm ab, ich passte in Hosen, man drehte sich nach mir um, ich war im FLOW. Schlussendlich landete ich bei 52 kg Abnahme, viel „Bewunderung“, einigen Kreislaufzusammenbrüchen und der Aussage meiner beiden Töchter viel, viel später: „Mutter, das war die schlimmste Zeit in unserem Leben, du warst unerträglich!“
Aber ich war schlank, ich trug nicht mehr Säcke in Größe 52/54, nein, ich wandelte in Größe 32/34 durch die Stadt und beschaute mich in jedem Schaufenster.
Etwa zu dieser Zeit waren die unehelichen Kinder abbezahlt und die Ehe krachte mit lautem Knall auseinander. Ich stand allein da, mit 2 Kindern, Beruf, weiterhin Nebenjobs und den Eltern am Ort, die zunehmend älter und auch anspruchsvoller, was Hilfen betraf, wurden.
Macht nichts, dachte ich mir, voller „Selbstdisziplin“, du schaffst einfach alles, wenn du nur willst, du schaffst auch das. Dass sich mein Gewicht von 54 kg auf 60 erhöht hatte, fiel weder mir noch anderen auf, bei 1,64 war das noch immer sehr schlank und für die Masse „gut ansehbar“.
In diese Zeit fallen der Anfang meiner Diabeteserkrankung ebenso wie die ersten Zeichen von Arthrose in den Knien, die jeder in unserer Familie hatte, auch meine sehr sportliche Großmutter, die erste weibliche Sportlehrerin überhaupt vor Ort.
2 Jahre später lernte ich meinen Mann kennen, wir beschlossen ein gemeinsames Leben, aber die ersten 18 Jahre eben berufs -und wohnsituationsbedingt an 2 Orten und nur am Wochenende und im Urlaub vereint.
Meine berufliche Tätigkeit erstreckte sich fast ausschließlich auf vormittags im Stehen, nachmittags und abends im Sitzen, meist bis 23 Uhr korrigieren, da ich nahezu nur die Klassen 11 und 12 in korrekturintensiven Fächern (D, Engl) unterrichtete. Dazu kamen Tätigkeiten an der HS als Dozentin für Fachenglisch und VHS sowie Nachhilfeunterricht, um alle Kosten, auch für die Ausbildungen der beiden Töchter in langen Studien zu schaffen. Disziplin in der Arbeit, im Haushalt und in der Planung aller Abläufe war meine Lieblingstätigkeit. Essen lief eher nebenbei, am WE in einem größeren Rahmen, da mein Mann ein sehr guter Esser und wunderbarer „Futterverwerter“ bis heute ist. Wir wanderten, machten Urlaube im Hochgebirge, fuhren an die See und schwammen stundenlang pro Tag. Ab und an merkte ich, dass meine Konfektionsgrößen sich der 46/48 näherten, das geht schneller, als manch einer denkt und braucht bei mir ca. 2200 kcal am Tag, trotz aller Mehrfachbelastung, und schon beginnt der leise, aber deutliche Anstieg.
Also, und in Anbetracht der Außenmeinung, wohlgemerkt nie von Schülern!, kamen so einige Einfälle: Diäten wie Kohlsuppe (7 kg weniger, 9 wieder drauf – Weight Watchers 11 kg weniger, 13 wieder drauf…und so weiter und so fort).
Dann schlug das Schicksal richtig zu, indem innerhalb eines Jahres beide Eltern an Krebs erkrankten und ich neben Beruf und Nebentätigkeiten ihre Versorgung auf allen Ebenen immer mehr übernahm, und zwar vorwiegend allein. Wer einen Gallengangskrebs bis zum letzten Atemzug und einem tagelangen Koma zuhause gepflegt hat, neben vollem Beruf, weiß, was das bedeutet. Jeder andere halte sich besser zurück. Dazu kam die Magenkrebserkrankung meines Vaters, der wohl nach dem Tod der Mutter dann 6 Wochen im KH lag, was aber mit sich brachte, dass ich an jedem Nachmittag 36 km fuhr, um ihn zu besuchen, weil ich es nicht aushielt, mir vorzustellen, wie er wartend am Fenster stehen würde. Das war die Zeit, in der ich immer! eine Tafel Schokolade im Auto liegen hatte und sie auch nahezu täglich aß, damit mir die Hände nicht so zitterten, sowohl beim Fahren als in der Schule, aber besonders nicht meinem alten, kranken Vater gegenüber.
Er starb am letzten Tag seines Rehaaufenthaltes, ich wog inzwischen 86 kg. Keiner fand das schlimm. In der Schule empfanden mich alle als besonders durchsetzungsfähig, sehr diszipliniert, äußerst fleißig, was übrigens keineswegs beliebt ist unter Kollegen. Inzwischen war mein Mann arbeitslos geworden, wir bauten das elterliche Haus um, ich versuchte trotz aller Belastungen etwas weniger zu arbeiten und trotzdem alles, auch mit der kleinen Rente meines Mannes im Griff zu behalten. Die Töchter wurden fertig mit ihren Studien, wobei beide immer auch nebenbei gearbeitet hatten, also sich nicht etwa auf Mutters Leistung ausruhen konnten und wollten.
Als endlich alles soweit fertig war und ich mich mit meinen Kilos auch gar nicht hässlich fühlte, wenn auch etwas zu schwer, kam…der Krebs meines Mannes von einem Tag zum anderen wie ein Blitz aus der Hölle. Metastasiert von der Hüfte bis zur Schädelbasis, Prognose noch ein halbes Jahr. Ich konnte mich kurzfristig entscheiden zwischen verrückt werden oder Mut machen und entschloß mich wild und ungestüm für die 2. Variante. Ich begleitete meinen Mann, da ich damals in Altersteilzeit gegangen war (als hätte mir das Schicksal das diktiert, nicht etwa meine bis heute anhaltende Liebe zu meinem Beruf!) in allen Behandlungsphasen, ich kochte und tue es bis heute, jeden Tag frisch. Es gibt für ihn, der weiterhin gern und durchaus auch viel isst, 5 Mahlzeiten am Tag (Frühstück, 2. Frühstück mit Proteindrink für den Muskelerhalt, Mittagessen, Kaffeetrinken plus Abendbrot), dazu soviel Abwechslung wie irgend möglich mit kleinen Ausflügen in die Umgebung, Theater, Konzert... Ich (70) fahre ihn (fast 83) zu jedem Arztbesuch, auch 360 km entfernt und über 3 Autobahnen, ich besorge Bücher, ich priorisiere seine Nöte, seine Befindlichkeiten und sein Leben, weil es mir das wert ist, weil er derjenige Mensch war, der mir und meinen Töchtern beistand, wann und wie er immer es konnte und weil er ein liebenswerter, anständiger Mensch ist, der das verdient.
Nebenbei schreibe ich Bücher, unterrichte per Fernunterricht meine Enkel seit Februar in Coronazeiten, korrigiere für Bekannte ihre Bachelor- und Master- sowie Doktorarbeiten.
Und ich wiege 118kg. Ja, und ich esse mit meinem Mann, weil er es sonst nicht tut. Nein, ich esse nicht, was er selbst verträgt, aber wer mit 2 200kcal zunimmt, der muss nicht viel essen. Und dann sagt man mir, es fehle mir an Selbstdisziplin oder Selfcare, diesem schönen NEUwort, das eigentlich bedeutet: Schau, wie du selbst am besten durchkommst, alles andere sollte dich nicht interessieren.
Vielleicht sollten wir uns abgewöhnen über andere zu urteilen. Uns ganz einfach bescheiden auf unser eigenes Leben konzentrieren. Ich bin mir sicher, es gibt bei jedem genug Baustellen. Einen Menschen wegen seines Äußeren zu verurteilen sagt alles über den Urteilenden, nichts über den Betroffenen.
Ich möchte schließen mit dem schönen Spruch, der etwas abgenutzt ist, aber immer wieder zutrifft: Erlaube dir kein Urteil bevor du nicht in meinen Schuhe gelaufen bist…
Allen einen freundlichen Gruß und das zum Abschied: Entscheidend ist nicht euer Gewicht, es ist euer Charakter.